Grundlagenforschung
Als „Grundlagenforschung“ wird Forschung bezeichnet, die als einziges direktes Ziel den Erkenntnisgewinn hat.
Es gehört zur Natur des Menschen sich zu fragen, wie Dinge eigentlich funktionieren. Ist die Erde rund? Was ist Wärme? Was ist Leben? Diese Neugier steckt in jedem von uns. Aber ist es gerechtfertigt, für die Befriedigung dieser Neugier allgemeine Ressourcen wie Steuergelder zu investieren, oder sogar Tiere zu töten? Sollte so ein Preis nicht nur für Forschung gezahlt werden, die auch einen konkreten Nutzen hat? Auf dieser Seite erklären wir, dass Grundlagenforschung einen ganz konkreten Nutzen hat und dass sie schon aus pragmatischen Gründen betrieben werden sollte.
Warum brauchen wir Grundlagenforschung?
Jede angewandte Forschung – also z.B. die Entwicklung einer Maschine, eines Medikaments oder eines Verfahrens – basiert auf Grundlagenwissen.
Man kann eine Glühbirne nur erfinden, wenn man die physikalischen Grundlagen der Elektrizität kennt. Antibiotika nur, wenn man einen Stoffwechselweg kennt, der in Bakterien vorkommt aber nicht in Menschen. Ganz abgesehen davon, dass man wissen muss, dass es Bakterien überhaupt gibt, und dass sie die Ursache für viele Krankheiten sind. Grundlagenwissen ist wie ein Baumstamm, aus dem angewandte Forschungsprojekte wie Äste herauswachsen können.
Dass jedes neue Wissen und jede Anwendung nur auf vorherigem Wissen aufbauen kann, wissen Forscher seit jeher. Eines der größten Genies der Neuzeit war Isaac Newton (1643–1727). Er beschrieb unter anderem die Bewegungsgesetze, das Gravitationsgesetz und entwickelte die Infinitesimalrechnung – alles vor seinem 26ten Lebensjahr.
Grundlagenforschung ist wie ein Baumstamm, aus dem angewandte Forschungsprojekte herauswachsen
Wissenschaftler:innen stehen „auf den Schultern von Giganten“
Er selbst sagte, dass seine wissenschaftlichen Fortschritte nur möglich waren, weil er „auf den Schultern von Giganten“ stand. Damit meinte er all das Wissen von vorhergehenden Forschern, auf dem er aufbauen konnte.
Ähnlich äußerte sich der legendäre Neurowissenschaftler Santiago F. Ramon y Cajal (1852–1934). Er schrieb, dass sich Wissen über lange Zeit mehren muss, bis schließlich „mehrere Wahrheiten zu einem nützlichen Ganzen“ zusammengefügt werden können – einer Anwendung. Den zeitlos aktuellen Text von Ramon y Cajal haben wir hier für euch aus dem Spanischen übersetzt.
Harte Fakten zum Nutzen von Grundlagenforschung
Julius H. Comroe und Robert D. Dripps untersuchten den Zusammenhang zwischen Grundlagenforschung und Anwendungen 1975 systematisch. Sie fragten Kardiologen und Lungenärzte, welche medizinischen Entwicklungen in ihrem Gebiet die wichtigsten der vergangenen 30 Jahre seien. Daraus erstellten sie eine Top 10, angeführt von der Operation am offenen Herzen (z.B. Eingriffe an den Herzklappen), Gefäßchirurgie (z.B. Legen eines Bypass), und wirksamen Medikamenten gegen Bluthochdruck. Für jeden Punkt auf dieser Top 10-Liste identifizierten die Autoren mithilfe hunderter Helfer die zugrundeliegenden Wissensbereiche, z.B. Narkose, Blutgruppenbestimmung und Elektrokardiographie zur Messung der Herzaktivität. Dann identifizierten sie 2500 wissenschaftliche Arbeiten, die essentiell wichtig für einen dieser Bereiche waren und untersuchten einen Teil davon ausführlicher.
Ein Durchbruch ist wie das Besteigen eines Berges: Ein Schritt nach dem anderen
Sie fanden heraus, dass 61.5% dieser Arbeiten Grundlagenforschung waren. Das heißt, der größte Teil der Forschung, der wir die 10 wichtigsten Fortschritte der Herz- und Lungenmedizin bis 1975 verdanken, wurde durchgeführt, ohne dass irgendjemand seinerzeit den weitreichenden Nutzen hätte voraussehen können. Eine Operation am Herzen wäre nicht möglich, wenn nicht zuerst die Elektrizität entdeckt worden wäre (z.B. Charles du Fay, Benjamin Franklin), dann, dass Elektrizität auch von Tieren erzeugt wird (Luigi Galvani, Alessandro Volta), einschließlich des Herzens (Carlo Matteucci) und schließlich mit dem Elektrokardiogramm die Möglichkeit, diese elektrische Aktivität des Herzens zu messen und zu überwachen (Augustus D. Waller, Willem Einthoven). Comroe und Dripps verglichen den medizinischen Fortschritt mit dem Besteigen eines Gipfels. Einen solchen Gipfel kann niemand erreichen, der vom Tal anfängt. Die Forschung vorheriger Generationen bringt einen aber schon so weit nach oben, dass man nur noch die letzten Meter selber steigen muss.
Oft ist nicht eindeutig, ob ein Forschungsprojekt eher der Grundlagenforschung oder der angewandten Forschung zuzuordnen ist, da der Übergangsbereich sehr groß ist. Die Baseler Deklaration spricht sich deshalb sogar dafür aus, zumindest im biomedizinischen Bereich gar keinen konzeptionellen Unterschied zwischen angewandter Forschung und Grundlagenforschung zu machen. Wer z.B. physiologische Grundlagen erforscht, arbeitet genauso zielstrebig auf eine medizinische Verbesserung hin, wie jemand, der ein konkretes Medikament entwickelt.
In einer jüngeren Arbeit zum Thema verfolgten Robert S. Williams und seine Kollegen zurück, welche Forschungsergebnisse zu den wichtigen neuen Medikamenten Ivacaftor (gegen Mukoviszidose) und Ipilimumab (Krebsimmuntherapie) führten. Sie fanden, dass die Entwicklung von Ivacaftor auf die Arbeit von 2900 Wissenschaftlern an 2500 Instituten zurückgeht und sich über 60 Jahre erstreckte. Die Entwicklung von Ipilimumab erforderte gar die Arbeit von 7000 Wissenschaftlern an 5700 Instituten und 100 Jahre. Die Autoren schlussfolgerten, dass für die Entwicklung beider Medikamente eine breite Wissensbasis notwendig war. Eine Beschränkung aller Forschungsbemühungen auf die Heilung von Mukoviszidose und Krebs hätte ihrer Meinung nach wahrscheinlich nicht zum Ziel geführt, weil an entscheidenden Punkten das breite Wissen gefehlt hätte.
Heiße Bakterien: Taq Polymerase
In den 1960er Jahren untersuchten Forscher Bakterien, die in heißen Geysiren leben. Sie wollten wissen, wie es sein kann, dass sich diese Bakterien bei Temperaturen wohlfühlen, die eigentlich lebensfeindlich sind. Nutzlose Neugierforschung, oder?
Heiße Quelle im Yellowstone Park (Bildquelle: Wikipedia)
Diese Arbeit führte unter anderem zur Entdeckung, dass das Bakterium Thermus aquaticus eine besonders hitzestabile Variante eines lebenswichtigen Enzyms besitzt, der DNA Polymerase. Die DNA Polymerase aus Thermus aquaticus (Taq Polymerase) war 1988 die entscheidende Zutat für eine praktisch anwendbare Polymerase-Kettenreaktion (PCR). Die PCR ist bis heute ein Standardverfahren zur Analyse von DNA. Ohne dieses Verfahren wäre der heutige Fortschritt in der genetischen Forschung undenkbar. Die PCR ist fester Bestandteil von HIV-Tests, Ermittlung von genetischen Fingerabdrücken, Vaterschaftstests und der Diagnose von verschiedenen Erbkrankheiten.
Wie entwickeln sich Fliegen? Der Hedgehog-Signalweg
In den späten 1970ern begannen Wissenschaftler zu untersuchen, wie sich aus einem Fliegenei eine fertige Fliege entwickeln kann. Interessant. Aber auch eklig. Und vor allem: Wem sollte das etwas nützen?
Diese Forschung war essentiell für unser Verständnis der Entwicklungsbiologie. Viele der entdeckten genetischen Mechanismen finden sich auch bei Menschen. Auf der Entdeckung des Hedgehog-Signalwegs in Fliegenembryos beruht z.B. das Hautkrebsmedikament Vismodegib.
Fruchtfliegenpuppen (Bildquelle: Wikipedia)
Algen mit Durchblick: Optogenetik
Seit Anfang des 20ten Jahrhunderts erforschen Wissenschaftler, wie eine einzellige Alge es schafft, in ihrem Tümpel immer zum Licht zu schwimmen. Das kann doch nun wirklich keine Anwendung haben, oder?
Kriegen Bakterien Schnupfen? Restriktionsenzyme
Elektrische Leitung in Gas: Röntgenstrahlen
Eine Schattenkreuzröhre erzeugt mit sehr viel Strom ein sehr schwaches Licht. Warum weiter daran forschen? Dass sie kein Ersatz für die Glühbirne ist, ist doch offensichtlich, oder?
Wilhelm C. Röntgen experimentierte 1895 mit Schattenkreuzröhren. Dabei stieß er auf ein seltsames Phänomen – eine neue Art von Strahlung. Er erkannte schnell, dass man mithilfe dieser Röntgenstrahlung Bilder vom Inneren des Körpers machen kann – ein unschätzbarer Fortschritt für die Medizin. Röntgenbilder werden bis heute in jedem Krankenhaus benutzt, um Patienten richtig zu diagnostizieren.
Schattenkreuzröhre aus- und eingeschaltet (Bildquelle: Wikipedia)
Die Physik von Seifenblasen: Surfactant
In den 1950ern versuchte E.J. Radford, die Oberfläche der Lunge genau zu bestimmen. Müssen wir das wirklich so genau wissen? Außerdem gab es doch schon Schätzungen aufgrund mikroskopischer Messungen. Verschwendete Mühe, oder?
Riesenseifenblase (Bildquelle: Wikipedia)
Sauerstoff im Urin: Gewebeatmung
In den 1870er Jahren maß Eduard F.W. Pflüger den Gehalt von Sauerstoff und anderen Gasen in allen möglichen Körperflüssigkeiten, unter anderem Blut, Urin, Lymphe und Galle. War das wirklich eine sinnvolle Investition von Forschungsgeldern?
Eine Urinprobe (Bildquelle: Wikipedia)
Der zuckende Froschschenkel: Bioelektrizität
Luigi Galvani entdeckte 1780, dass ein Froschschenkel immer dann zuckte, wenn er unter Strom gesetzt wurde. Er ging diesem Phänomen jahrelang nach, und inspirierte viele andere Forscher, es weiter zu untersuchen. Makaber! Wollt Ihr jetzt Tote zum Gehen bringen? Oder könnte es doch irgendeine nützliche Anwendung dafür geben?
Versuchsaufbau eines Experiments von Galvani (Bild: public domain)
Schlussfolgerung
Solange ein Experiment eine wissenschaftliche Frage beantwortet, ist es nützlich.
Wenn wir wie Comroe und Dripps oder Williams und Kollegen im Nachhinein rückvollziehen, welche Forschungsergebnisse essentiell für einen medizinischen Fortschritt waren, lassen wir viele wichtige Forschungsbeiträge unberücksichtigt. Denn man kann nur direkte Verbindungen nachvollziehen. Zum Beispiel, wer die Theorie aufgestellt hat, von der die Forscher beim entscheidenden letzten Schritt ausgegangen sind. Welchen Beitrag leisteten aber Wissenschaftler, die diese Theorie seinerzeit anzweifelten und zu widerlegen versuchten? Auch ihre Arbeit war wichtig, wenn sie dazu beigetragen hat, Schwächen der Theorie systematisch auszuräumen. Das Wissen in einem Fachgebiet ist wie Erde in einem Blumentopf. Jede gute Forschungsarbeit trägt dazu bei, den Topf zu füllen. Eine Anwendung braucht diesen gesamten Topf, auch wenn sie nicht auf jedes Sandkorn direkt zugreift. Ergebnisse, die scheinbar wenig mit der Anwendung zu tun haben, können wichtig gewesen sein, einer zugrundeliegenden Hypothese zu Akzeptanz zu verhelfen. Forschung, die in die falsche Richtung ging, war mitunter nötig um zu erkennen, welches die richtige Richtung ist.
In einem berühmten Experiment wollten Albert A. Michelson und Edward W. Morley ein für alle Mal die Existenz des Äthers beweisen, des Mediums, in dem sich – wie man damals glaubte – Lichtwellen fortbewegen. Sie scheiterten. Die vorausgesagte Bewegung des Äthers relativ zur Erde konnten sie trotz ihrer sehr genauen Messungen nicht finden. Ihre Hypothese war falsch, und sie zogen aus ihren Ergebnissen die falschen Schlüsse. Aber die Messungen waren richtig. Ihr Experiment gilt heute als eines der wichtigsten der Physikgeschichte. Es stieß eine Reihe weiterer Untersuchungen und Überlegungen an, die schließlich zur Entwicklung von Albert Einsteins Relativitätstheorie führten. Einstein sagte zum Thema Grundlagenforschung: „Am wichtigsten ist es, nicht mit dem Fragen aufzuhören. Die Neugier hat ihre eigene Existenzberechtigung“